Achtung, Anstandsverletzung!

Schlechte Zeiten sind die besten Zeiten für Anstand. Dann reklamieren alle diesen Begriff für sich und dehnen ihn wie ein Gummiseil, bis das Wort jeden Sinn verliert. Ich habe ein kleines Buch dazu geschrieben.

Schlechte Zeiten sind die besten Zeiten für Anstand. Dann reklamieren alle diesen Begriff für sich und dehnen ihn wie ein Gummiseil, bis das Wort jeden Sinn verliert. Ich habe ein kleines Buch dazu geschrieben.

Wenn man in Österreich „Anstand“ in das Suchfeld von Google eintippt, ist Google schnell mit einem Vorschlag zur Stelle: „Anstandsverletzung“ ist das erste, was der Suchmaschine dazu einfällt. Das ist sehr österreichisch. Nur keine Wellen schlagen, die Füße schön stillhalten, nicht auffallen. Denn sonst gibts Ärger. Die erste Vorstellung von Anstand ist eben oft die von gutem Benehmen. Wer anständig ist, fällt nicht schlecht auf und ist kein unangenehmer Mensch.

Die Anstandsverletzung, zu der Google dann weiterleiten möchte, sind dann auch Verstöße gegen die Schicklichkeit – jemand war nicht so, wie man sein soll, und wird wieder zur Ordnung gerufen. Anstand, könnte man meinen, wäre also der Normalzustand, gegen den ausnahmsweise verstoßen wird.

Warum gibt es dann gerade in der Politik immer wieder Zeiten, in denen wir besonders laut und besonders eindringlich nach Anstand rufen? Und warum ist das auffälligste in diesen Momenten, dass alle Seiten nach Anstand rufen – auch die, denen die jeweils anderen vorwerfen, der Grund dafür zu sein, dass man dringend wieder zum Anstand zurückkehren müsse?

Anstand lässt uns handlungsfähig bleiben

Ich habe mich in einem kleinen Buch näher mit Anstand beschäftigt. Anstand ist ein sehr vielschichtiger Begriff, der von sehr vielen und sehr unterschiedlichen Seiten beansprucht wird. Ich möchte niemandem absprechen, nicht anständig zu sein, nur weil er oder sie anderer Meinung ist als ich. Deshalb habe ich nach einem anderen Begriff von Anstand gesucht, der die vielen unterschiedlichen Vorstellungen, die mit Anstand verbunden werden, unter einen Hut bringen kann.

Anstand wird in diesen Überlegungen zu einem sehr funktionalen Begriff. Anstand ist nichts, das uns besser oder schlechter macht, und nichts, das mit Werten, Traditionen oder Moralkonzepten verbunden ist. Anstand ist eine Verhaltensweise, die uns handlungsfähig bleiben lässt. Wenn wir anständig miteinander umgehen, haben wir eine Basis, um Lösungen für große Herausforderungen zu suchen, die uns beschäftigen.

Das ist meiner Meinung nach auch der wichtigste Grund, warum wir Anstand brauchen. Dass sich manche Politiker_innen im Urlaub richtig schlecht benommen haben, dass andere die daraus entstandene Unordnung für ungeahndete Revanchefouls nutzen (die dann auch wieder nach hinten losgehen) – das sind vergleichsweise Kleinigkeiten, auch wenn man sich zurecht darüber ärgert.

Anstand bedeutet Aufrichtigkeit

Anstand ist nicht dazu da, Unangenehmes aus unserem Leben fernzuhalten; ein Appell für Anstand ist kein Aufruf zu gutem Benehmen. Anstand ist eine Form der Aufrichtigkeit, die Inhalt über Taktik stellt. Anständiges Handeln ist konsistentes Handeln, in dem die einzelnen Taten auch tatsächlich zu den Zielen passen, die wir vor uns hertragen.

In diesem Sinn ist Anstandsverletzung also tatsächlich etwas wichtiges. Nur müssen wir dann etwas anderes darunter verstehen als ein Kavaliersdelikt. Wobei es manchmal gerade auch anständig sein kann, sich gegen die Regeln des Anstands zu wenden und anständig laut auf den Putz zu hauen – aber das ist eine andere Geschichte …

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