Anstand wird manchmal als Abwehrinstrument genutzt, um das Gespräch zu verweigern. Anstand ist aber vielmehr ein Mittel, um direkt zur Sache zu kommen.
Wie verträgt sich das eigentlich: Wie kann man, wenn man selbst dafür bekannt ist, auch mal politisch anders, lauter, ausgefallener und aktionistischer aufzutreten, für Anstand eintreten? Ist Anstand nicht eher etwas für die feinen Leute, also eher für die, die gerne für fein gehalten werden möchten?
Das ist auch eine der Vorstellungen von Anstand. Und auch sie erfüllt eine Funktion. Anstand als Pochen auf gute Benehmen schließt aus, schränkt ein, baut Hürden auf, verlangt Voraussetzungen – und treibt ziemlich viel Aufwand, um nicht zur Sache kommen zu müssen.
Es ist aber gar nicht so anständig, von anderen erst einmal die Erfüllung von Formvorgaben zu verlangen, bevor man sich bereit erklärt, mit ihnen zu reden. Dann wird Anstand nämlich zu einem Instrument, mit dem man andere auf Abstand hält, ablenkt, beschäftigt, ausschließt, damit man selbst ungestört seinen Angelegenheiten nachgehen kann.
Am Anstand anstehen
Die anderen stehen währenddessen buchstäblich am Anstand an. Er bildet für sie eine Mauer, die sie nur mit unanständigen Mitteln überwinden können. In solchen Situationen verkehren sich allerdings die Vorzeichen von Anstand: Es wird gerade umkehrt zum eigentlichen Anstand, sich gegen den vermeintlichen Anstand zu wehren. Dann muss man Mittel und Wege suchen, das eigentliche Thema auf den Tisch zu bringen. Es braucht dafür Bilder, die klar verständlich machen, worum es geht, und die den oder die anderen zur Reaktion zwingen.
Das kann politischer Aktionismus sein, der auf der Straße stattfindet. Das kann aber auch die Kommunikation in anderen Kanälen und Formaten sein, in denen die Oberhoheit der vermeintlich Anständigen nichts zählt. Am Beispiel des CDU-Zerstörungsvideos auf Youtube habe ich das schon mal kurz beschrieben.
Den Rahmen verlassen, um klare Worte zu finden – das gehört also auch zum Anstand. Es bedeutet aber ganz und gar nicht, dass alles erlaubt ist. Im Gegenteil, hier zählen erst recht die feinen Unterschiede. Ich beende selbst auch manchmal Diskussionen, scheinbar wenn mit der Ton nicht passt. Dabei geht es allerdings nicht um den Mangel an gutem Benehmen. Wer sich in Unterstellungen verliert, zu lauten und dramatischen Formulierungen greift, ohne beim Thema zu bleiben, der oder die hat dann eben auch die Grenzen des Anstands verlassen.
Denn: Wer lauter werden will, muss dabei eben auch die feinen Töne treffen können.